Die Zeitschriftenseite, die Sie gerade umgeblättert haben, ist weniger als ein Zehntel Millimeter dick. Ziemlich genau etwa 0,065 Millimeter. Also 65 Mikrometer, gesprochen Mü und mit dem Symbol μ. Mikrometer: Das ist die eine Dimension, in der sich die Arbeit des hannoverschen Industriedienstleisters Wilhelm Bauer bewegt. Die andere ist weit größer: Da geht es um Gewicht, und die Maßeinheit sind Tonnen.
Das Unternehmen im Stadtteil Anderten ist Spezialist für Walzenbearbeitung. Tonnenschwere Stahlzylinder, deren Oberfläche mit einer Genauigkeit im Tausendstel-Millimeter-Bereich behandelt wird. Mechanik und Galvanik: Schleifen, dann verchromen oder vernickeln, erneut schleifen und polieren. Auf diesen beiden Beinen steht die Wilhelm Bauer GmbH & Co. KG mit ihren insgesamt rund 60 Beschäftigten.
Mit den Walzen, die aus aller Welt zur Endbearbeitung oder zur Reparatur nach Hannover kommen, werden vor allem Kunststofffolien hergestellt. Papier ebenfalls, und früher drehten sich in Hannover bearbeitete Werkzeuge auch in der Textilindustrie. Folien aber sind heute allgegenwärtig. Verpackungen, natürlich. Möbel mit Kunststofffurnier. Fußbodenbeläge. Im Auto? „Unendlich viel Folie“, sagt Tobias Bauer, mit seinem Bruder Jan in dritter Generation Geschäftsführer des Unternehmens. Zum Beispiel in Batterien für Elektroautos. Indirekt sind die Hannoveraner immer dabei: Von ihnen bearbeitete Walzen seien bei allen großen Batterieherstellern im Einsatz, so Tobias Bauer. Die Folien-Vielfalt bietet aber eine breite Basis für das Geschäft. E-Auto-Batterien sind ein Zukunftsmarkt, aber Wilhelm Bauer ist nicht von der Automobilbranche abhängig: Überall werden Walzen gebraucht.
Die erhalten in Hannover in aller Regel ihre Schlussbehandlung. Komplettproduktion ist die Ausnahme. Im wahrsten Sinn des Wortes: Bei Wilhelm Bauer bekommen Walzen den letzten Schliff. Das Unternehmen arbeitet als Zulieferer für Hersteller von Anlagen- und Maschinenbauer, repariert aber auch. Wenn zum Beispiel im Tagesgeschäft eine Zange, ein Schraubendreher auf die Walze fällt. In Anderten wird dann überprüft, ob beispielsweise die Hartchromschicht noch für eine Reparatur ausreicht. Oder ob die Walze erst in die Galvanik muss. Die liegt einige hundert Meter entfernt auf der anderen Seite des Mittellandkanals. Dort ist die Keimzelle des Unternehmens.
Im Sommer 1945, nur wenige Monate nach Kriegsende, kam Wilhelm Bauer mit seiner Familie von Hamburg nach Hannover. Die Stadt eine Trümmerlandschaft, das Land Niedersachsen gab es noch nicht, ebenso wenig die Bundesrepublik. Und statt der D-Mark als Währung wohl eher Lucky Strike. In dieses Nachkriegsnichts hinein gründete Bauer zunächst ein Handelsgeschäft. Mit seinem Wissen in der Metallbearbeitung, erworben im Flugzeugbau bei den Heinkel-Werken, verlegte er sich aber schnell auf die Bearbeitung von Werkstücken für die wiederauflebende hannoversche Industrie: Continental, Berstorff, Wohlenberg, Benecke. Charismatisch sei sein Großvater gewesen, sagt Tobias Bauer, mit einem guten Gespür fürs Geschäft und für Menschen. In zweiter Generation baute Hans Bauer das Unternehmen aus. Vor allem die 80er Jahre waren eine Wachstumsphase. Kurz vor dem Fall der Mauer, bevor Hannover ins Zentrum eines von den Ost-West-Zwängen befreiten Europas rückte, zog das Unternehmen an den heutigen Unternehmenssitz, auf ein reichlich bemessenes Grundstück. Die Werkshallen – mit dem LKW befahrbar und mit ausreichend Platz, um die trotz ihrer Größe empfindlichen Walzen trocken und sicher zu lagern - entstanden in den folgenden Jahren. Erst danach zog sich Hans Bauer ganz aus dem Unternehmen zurück, „schickte sich mit 80 in die Rente“, sagt Sohn Tobias. Aufgabe für ihn und seinen Bruder in den kommenden Jahren: Auch die Galvanik vom ursprünglichen an den aktuellen Standort zu holen.
Fachkräfte dringend gesucht
Nun liegt es in der Natur der Sache, dass Hidden Champions, wie der Name schon sagt, gerne in einer Nische verborgen sind. „Uns kennt überhaupt kein Mensch.“ Großes Bedauern klingt aber nicht mit, wenn Tobias Bauer das sagt. Und es stimmt auch nicht so ganz. Reklame? Vertrieb? Brauchen die Hannoveraner nicht. Die Kunden kommen, und zwar aus der gesamten EU, aus Asien, aus Amerika – „von überall dort, wo Industrie auf einem bestimmten Niveau stattfindet“, so der Geschäftsführer. Der Kundenstamm zählt einige hundert Unternehmen. Manche greifen allerdings nur in großen Abständen auf die Hannoveraner zurück. Neue kommen auf Empfehlung. Denn: „Was wir machen, ist extrem selten auf der Welt.“ Der Geschäftsführer zählt die Konkurrenz buchstäblich an einer Hand ab. Zwei oder drei in Deutschland, zwei weitere in der Schweiz.
Erfolgreich, aber in der Nische: Was bei Kunden funktioniert, lässt sich nicht so einfach auf Fachkräfte übertragen. Der Bedarf ist da, bei Wilhelm Bauer sucht man intensiv nach neuen Leuten zum Beispiel in den zerspanenden Berufen.
Und wie viele Walzen werden jedes Jahr in Anderten bearbeitet? Sehr unterschiedlich. Jedes Werkstück ist individuell: „Wir arbeiten hier mit Losgröße eins – bei zwei fängt schon die Serie an.“ Der Umsatz des Unternehmens lag zuletzt bei rund 9 Mio. Euro. Dieses Jahr habe wirklich gut begonnen, meint Bauer. Und dann Corona: Die Pandemie mache sich bislang leicht negativ bemerkbar. Und die weitere Entwicklung? Das Virus macht Prognosen unmöglich: Ein Blick in die Glaskugel.
Auch als Spezialisten stehen die Hannoveraner im Wettbewerb. Bauer nennt drei entscheidende Faktoren. Erstens der Termin: Oft verfügen die Kunden zwar über eine Ersatzwalze, trotzdem geht es bei einer Reparatur um Schnelligkeit. Beim Preis – zweites Kriterium - schwingt sofort der Hochlohnstandort Deutschland mit: Mehr als die Hälfte der Kosten geht auf das Konto Personal. Aber dann geht es, drittens, um Qualität. Das Unternehmen hat in den vergangenen 75 Jahren jede Menge einschlägiges Know-how aufgetürmt, dazu einen umfangreichen Maschinenpark. Unter den technischen Möglichkeiten das „Sahnestück“, so Tobias Bauer: Die Möglichkeit, Walzen bei genau der Temperatur zu schleifen, mit der sie dann später in der Produktion laufen. Zwischen 20 und 220 Grad sind möglich. Über 13 Schleifmaschinen unterschiedlicher Größe verfügt das Unternehmen, hinzu kommen Drehmaschinen und die Galvanik. Und womit wird, zum Beispiel, die verchromte Walze poliert? Tobias Bauer schweigt. Und bittet auch darum, die eine oder andere Anlage nicht zu fotografieren: Betriebsgeheimnis. Bis zu zehn Meter können die Walzen lang sein, mit einem Durchmesser bis dreieinhalb Meter. Die schwersten wiegen deutlich über 20 Tonnen. Hier kommen die verschiedenen Dimensionen wieder zusammen. Egal, ob heiß oder kalt geschliffen wird: Die Abweichung vom Soll-Profil kann auf einen Mikrometer begrenzt werden. Und das ist deutlich dünner als die Seite, die Sie gleich umblättern werden.
Quelle: Niedersächsische Wirtschaft, 11/2020